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Radieschen

Geschichten > volkskundliches > Haus u. Hof

Die besten Radieserl der Welt


Im Mai, wenn es die ersten Radieserl gab, waren wir Kinder immer ganz aufgeregt, wann es denn endlich soweit wäre, mit dem Ausziehen der köstlichen roten Radieserl. Jeden Tag schauten wir nach, wieweit sie schon mit ihrer roten dicken Wurzel aus der Erde schauten.


Radieserl; [BKG13]

Die Radieserl wuchsen in einem Mistbeet, das Papa und Mama eigens für diesen Zweck angefertigt hatten. Das Mistbeet bestand aus zusammengebügelten, alten Kunstdüngersäcken. Für diesen Zweck wurden Kunstdüngersäcke über das ganze Jahr hin gesammelt. Man warf damals praktisch nichts weg. Alles wurde immer wieder irgendwie verwendet. Die Kunstdüngersäcke bestanden aus dickem Plastik, diese wurden mit einer alten Schneiderschere in handhabbare Streifen geschnitten und mit dem Bügeleisen wieder zu einer neuen Form zusammengebügelt. So entstand eine Plastikplane aus vielen kleinen Einzelteilen. Damit das Plastik nicht zusammenklebte, wurde eine alte Zeitung zwischen Bügeleisen und Plastikteilchen gelegt. Es war eine Kunst, die Temperatur richtig einzustellen. War das Bügeleisen zu heiß, dann gab es unerwünschte Rillen, war das Bügeleisen zu kalt, dann klebte das Plastik nicht zusammen. Blieb man mit dem Bügeleisen zulange an einer Stelle, dann ging der Rauch auf und ein Loch war eingebrannt, ging man zu schnell voran, schmolz das Plastik nicht zusammen. Mein Vater baute dann aus Holzlatten ein kleines Gerüst und nagelte die zurechtgeschnittene, frisch gebügelte Plastikplane mit Dexnägel an das Lattengerüst. Dexnägel sind kurz und haben einen extra breiten Kopf, sie sind zum Befestigen von Sackleinen, Plastik oder Dachpappe auf Holz bestens geeignet. Der Deckel des Mistbeets wurde extra angefertigt. Er wurde schräg auf den Beetrahmen gelegt. So entstand eine Art Putdach. Das ganze Mistbeet war ungefähr 1,5 Meter lang und 90 cm tief. Wenn die Radieserl abgeerntet waren, kamen Salatpflanzerl in das Mistbeet. Ein Beet aus Glas wäre bei den übrigen Haustieren und den Kindern rund ums Haus viel zu bruchanfällig gewesen. Auch sollte immer alles wenig bis nichts kosten. Das Mistbeet war mit Ausnahme der Dexnägel komplett aus Recyclingmaterial hergestellt und wurde einfach auf die Erde gestellt.
Wenn es dann im Mai jeden Abend zu den Maiandachten ging, wurden irgendwann nach der Maiandacht, die ersten Radieserl gezogen und unter dem Gartenschlauch abgespritzt.
Ich erinnere mich gerne an diese wunderbaren Abende. Die Vögel zwitscherten immer besonders laut im Frühling und der Flieder duftete.
Mama und Papa machten Butterbrote und es gab die ersten Radieserl mit Salz auf das Butterbrot.
Dazu gab es ein Orangengracherl. Das war ein Limo mit extrem viel Kohlensäure in wiederverschließbaren Limoflaschen. Das Gracherl sprudelte und zischte schon beim Aufmachen.
Das Brot wurde von großen Brotlaibern in dünne Scheiben geschnitten, der Butter musste im Vergleich zu einem Wurstbrot als Unterlage viel dicker aufgestrichen werden, damit die Radieserlscheiben auch kleben blieben. Mama mochte auch gerne ein Schnittlauchbrot dazu, alles wurde mit Salz, Pfeffer und viel Genuss gegessen.
Ich liebte diese Abende mit meinen Eltern. Es gab leider viel zu wenige davon, denn mein Vater arbeitete neben der Landwirtschaft noch in der Molkerei in einem Dreischichtbetrieb. Auch am Samstag und am Sonntag. Die Kühe gaben ja an allen Tagen Milch und diese musste auch immer frisch verarbeitet werden. Auch Mama war fast immer irgendwie beschäftigt. Entweder sie war im Stall oder auf dem Feld, oder sie kochte für die große Familie. Um so kostbarer war die gemeinsame Zeit beim Brotzeitmachen. Wir hatten immer das Gefühl, das haben wir uns jetzt wirklich verdient und das ist sehr gesund. Keiner dachte an das Dickwerden oder an Kalorien oder an einen zu hohen Cholesterinwert. Wir aßen und es schmeckte uns.


Aufgeschrieben am 12. Sep. 2012 von Eleonore Hartl-Grötsch, geb. Hartl (*1960), München

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